L. Coppolaro u.a. (Hrsg.): Free Trade and Social Welfare in Europe

Titel
Free Trade and Social Welfare in Europe. Explorations in the Long 20th Century


Herausgeber
Coppolaro, Lucia; Mechi, Lorenzo
Reihe
Routledge Studies in Modern European History
Erschienen
Abingdon 2020: Routledge
Anzahl Seiten
XII, 188 S.
Preis
£ 96.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Für die Geschichte der internationalen europäischen Sozialpolitik stehen sich in der Forschung zwei gegensätzliche Interpretationen gegenüber. Sie wird entweder als eine Geschichte einer gescheiterten Verbindung von wirtschaftlicher Integration und internationaler Sozialpolitik oder als eine Geschichte eines langsamen, immer wieder in Krisen geratenen Aufbaus einer inzwischen einflussreichen europäischen Sozialpolitik geschrieben. Das an der Universität Padua entstandene Buch über „Free Trade and Social Welfare in Europe“ gehört in diese Debatte und greift einen besonderen Zusammenhang auf, den Historiker:innen selten behandeln, der aber in den öffentlichen Debatten seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte: der Zusammenhang zwischen der Liberalisierung des Außenhandels und der Stärkung internationaler sozialer Regulierungen. Der Band wird herausgegeben von Lucia Coppolaro, Expertin der Geschichte der Außenhandelspolitik der Europäischen Gemeinschaft, und von Lorenzo Mechi, einem der wichtigsten Spezialisten der europäischen Sozialpolitik seit 1945, beide an der Universität Padua. Das Buch konzentriert sich auf die Debatten zu diesem Thema in internationalen Organisationen.

Die Kernthese des Buches, folgt man der Einleitung von Coppolaro und Mechi: Auf der internationalen europäischen Ebene wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Liberalisierung des Außenhandels und die Sozialpolitik nicht miteinander verbunden, wie das von der europäischen Linken während der Zwischenkriegszeit erwartet wurde. Vielmehr wurde das Thema des sozialen Europa nach 1945 von der Liberalisierung des Außenhandels immer mehr an den Rand gedrängt. Die Einleitung spricht von einem „substantiellen Scheitern“ (substantial failure) der Projekte des sozialen Europas und der sozialen Klauseln in internationalen Verträgen (S. 10).

Die Beiträge des Bandes untermauern diese Leitthese zum großen Teil, aber nicht immer. Für die letzten Jahrzehnte vor 1914 stellt Donald Sassoon fest, dass die Anfänge des Sozialstaats, der Aufbau von Kranken- und Altersversicherungen und die Verbesserung des Arbeitsschutzes, fast überall in Europa außer in Großbritannien mit einem wachsenden Handelsprotektionismus zusammenfielen. In den 1920er-Jahren dagegen, das zeigt Brian Shaev, sahen die Gewerkschaften in Deutschland (wie meist die Linke in Europa) nicht nur einen engen Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Handelspolitik, sondern befürworteten den Ausbau des Sozialstaats und gleichzeitig den internationalen Freihandel. Diese Vorstellungen der Gewerkschaften scheinen ein wichtiger, positiver Orientierungspunkt für die These der Herausgeber zu sein.

Die meisten Beiträge des Bandes behandeln die Zeit nach 1945 und belegen für die Debatten in den internationalen Organisationen, dass diese Verbindung von starkem Sozialstaat und liberalisiertem Außenhandel kaum noch vertreten wurde. Francine McKenzie zeigt, dass in den internationalen Regierungsdebatten über die International Trade Organisation zwischen 1945 und 1948 die Liberalisierung des internationalen Handels eine weit höhere Priorität besaß als die soziale Sicherheit. Lorenzo Mechi weist nach, dass das Interesse an der Harmonisierung der Arbeitsbedingungen und der sozialen Systeme während der 1950er- und 1960er-Jahren in den Debatten der internationalen Organisationen, der ILO, der OEEC, der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft immer mehr zurückging. Auch in den Debatten der Internationalen Handelskammer, so Marco Bertilorenzi, wurde die soziale Sicherung von der Zwischenkriegszeit bis zu 1960er-Jahren immer stärker von den internationalen Handelsfragen in den Hintergrund gedrängt. Andrew Waterman zeigt, dass die Einstellungen der britischen Gewerkschaft TUC und des britischen Arbeitgeberverbands CBI gegenüber Globalisierung, Freihandel und gegenüber staatlichem sozialem Schutz vor internationaler Konkurrenz in der englischen Textilindustrie während der krisenhaften 1970er-Jahre deutlich kontroverser waren als in den Gewerkschaften in der Zwischenkriegszeit. Lucia Coppolaro kann nachweisen, dass sich die GATT-Verhandlungen in den 1950er- und 1960er-Jahren primär um Handelsliberalisierung, dagegen kaum um Arbeitsschutzklauseln drehten und auch ab den 1970er-Jahren, als die USA und auch einige EG-Länder das Thema der Sozialklauseln angesichts der wachsenden Konkurrenz von Ländern der südlichen Hemisphäre ins Spiel brachten, in der WTO auf starke Opposition der wachsenden Zahl von südlichen Mitgliedsländern stießen. Auch Eric Bussière, der die Ergebnisse des Bands in die breite Geschichte der internationalen wirtschaftlichen Regulierungen vom späten 19. Jahrhundert bis zu Gegenwart einordnet, sieht die Einbeziehung internationaler sozialer Standards als zunehmend schwierig an. Nur Laurent Warzoulet arbeitet die Entstehung einer europäischen Sozialpolitik seit den 1970er-Jahren heraus. Sie bestand in seinen Augen während der 1970er-Jahre zuerst noch in mühsamen Schritten in Richtung auf ein Aktionsprogramm für Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz, in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zugunsten gleicherer Bezahlung von Männern und Frauen, in Direktiven für den Umweltschutz und in ersten Schritten zu einem Europäischen Entwicklungsfond. Warzoulet zeigt, dass der eigentliche Durchbruch mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 kam, die einerseits ein umfangreiches Liberalisierungsprogramm für den Europäischen Markt war, aber gleichzeitig Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft für den Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz brachte, den sozialen Dialog, also die Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeber an europäischen sozialpolitischen Entscheidungen, ausbaute und die Kohäsionspolitik anstieß. Gleichzeitig wurde der europäische Regionalfond mit seiner Umverteilung von reicheren zu ärmeren Regionen aufgebaut. Für Warlouzet war damit die europäische Sozialpolitik kein gescheitertes Projekt.

Das Buch hat vor allem zwei Verdienste: Es mobilisiert Historiker:innen in einem Themenfeld, in dem bisher teilweise eher Sozialwissenschaftler:innen das Sagen haben. Dabei bringt das Buch Historiker:innen zu zwei normalerweise getrennten Themen, der Geschichte des sozialen Europas und der Geschichte der internationalen Handelspolitik in Europa zusammen, um den Zusammenhang zwischen diesen beiden Themen zu klären. Nicht nur die beiden Herausgeber:innen, sondern auch die Autor:innen dieses Bandes sind jeweils Expert:innen eines dieser beiden Themenfelder. Das Buch belegt besser als die bisherige Forschung, dass in wichtigen internationalen Organisationen der 1950er- und 1960er-Jahre in Europa das Thema der internationalen sozialen Regulierungen von der Priorität der Liberalisierung des Handels in den Hintergrund gedrängt wurde. Dagegen baute sich die Europäischen Gemeinschaft, folgt man dem Buch, nachdem sie diesem Trend in den 1950er- und 1960er-Jahren gefolgt war, seit den 1970er-Jahren eine eigene Sozialpolitik auf. Das Buch belegt also in den sozialen Regelungen eine Auseinanderentwicklung zwischen der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise der Europäischen Union und den anderen internationalen Organisationen. Das leistet das Buch in mehreren profunden, neuen Untersuchungen zu Einzelthemen, die eine kurze Besprechung eines Sammelbandes nur ansprechen, nicht im Einzelnen würdigen kann.

Allerdings hat das Konzept dieses Buches auch Lücken: Die Zeit seit den 1980er-Jahren wird mit Ausnahme der Beiträge von Eric Bussière und Lucia Coppolaro nur kursorisch behandelt. Diese Epoche wäre wichtig gewesen, da auf der europäischen Ebene eine einflussreiche Sozialpolitik mit europäischen Kompetenzen für Minimalstandards in Gesundheitsschutz und Arbeitsschutz, mit der Durchsetzung sozialer Grundrechte auf der europäischen Ebene, mit der Ausweitung des „Sozialen Dialogs“ und mit den Kohäsionsfonds, darunter auch der Europäischen Sozialfonds, etabliert wurde. Diese Epoche stützt die These von einem Zurückdrängen der Sozialpolitik durch die Handelspolitik in der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise Europäischen Union nicht mehr. Darüber hinaus hätte man sich gewünscht, dass auch für die Vor- und Zwischenkriegszeit die internationale europäische Sozialpolitik, nicht nur nationale Sozialpolitik behandelt worden wäre. Lediglich Eric Bussière kommt darauf kurz zu sprechen. Schließlich bleibt die Frage etwas im Schatten, wie das Konzept der Linken der Zwischenkriegszeit einzuordnen ist und ob dabei wirklich an eine internationale europäische Sozialpolitik oder eher eine Kombination von Liberalisierung des Außenhandels und starkem nationalem Sozialstaat gedacht war. Diese Vorstellung wurde in Europa nach 1945 durchaus mit einem europäischen Wirtschaftsmarkt ohne Zölle und starken nationalen Wohlfahrtsstaaten eingelöst. Trotz dieser Grenzen stoßen die beiden Herausgeber:innen und die Autor:innen ohne Zweifel in eine Lücke der historischen Forschung. Sie füllen diese mit Beiträgen von potenten Expert:innen, einer klaren Einleitung und einer schönen Zusammenfassung.